50. Schrödigers Baum

von Charlotte Engmann

Schrödigers Baum

(Die Vierte Ebene: Die Ring-Ebene)

von Charlotte Engmann

Tot.

Der dichte, grüne Wald, der sich einst über diesen Landstrich erstreckt hatte, war tot.

Eine Feuersbrunst hatte jegliches Leben verschlungen.

Die Erde war zu Staub verbrannt, und die einzigen Landmarken waren die verkohlten Stämme der Bäume, die sich vormals in voller Pracht und Blüte gen Himmel gestreckt hatten.

Selbst die Sonne verbarg sich hinter einem Schleier von Dunst, als könne sie den Anblick dieses Ödlands nicht ertragen.Dantana marschierte durch die schwarze Wildnis, den Kopf noch stolz erhoben, doch ihre Schritte wurden immer schleppender.

Ihre Augen brannten von dem Staub, den ihre Füße aufwirbelten, und ihre Kehle war wie ausgedörrt.

Doch schlimmer als der Durst quälten sie die erschütternde Einsamkeit und die Stille, die über dem toten Land lastete.Zuerst war die Elfe von der Ruhe angetan gewesen, denn nachdem sie ihre unterirdische Heimat verlassen und die Oberfläche erreicht hatte, war sie von stetem Lärm umgeben gewesen. Die Schreie der Tiere, das Murmeln der Bäche und das Rauschen des Windes in den Bäumen hatten viel zu laut in ihren Ohren geklungen.

Unter dem Berg war das Leben leise - aber niemals so unfassbar still gewesen wie in dieser Wüstenei.

Kein Laut erklang, die ganze Welt war in Schweigen gehüllt.

Es war beängstigend.

Was war das?

Dantana fuhr erschrocken zusammen, dann lauschte sie angespannt.

Nein, nichts.

Ihre Einbildung täuschte ihre Ohren, gaukelte ihr Geräusche vor, wo keine waren.

Unbemerkt verrann die Zeit, und immer öfter glaubte die Elfe, ein Geräusch zu hören, hier das Tappsen von weichen Pfoten, da den Gesang eines Vogels oder dort das Rauschen von Bäumen.

Das Murmeln eines Bächleins hielt sie ebenfalls für eine Sinnestäuschung, bis es mit jedem Schritt weiter anschwoll.Ein leiser Seufzer entfloh ihren Lippen, und erleichtert folgte Dantana dem Ton, bis sie an eine kleine Quelle kam.

Aus einem Erdloch sprudelte klares Wasser, das in ein schwarzes Rinnsal mündete.

Und daneben schlief ein Gnom.Dantana kannte ihn, war ihm schon einmal begegnet.Sie kniete an der Quelle nieder und trank einen Schluck.

Das kühle Wasser linderte den Schmerz in ihrer Kehle, und erfrischt wandte sie sich dem Gnom zu.

Unsanft schüttelte sie ihn, bis er erwachte.

Zuerst war sein Blick unscharf, doch dann bemerkte er Dantana. Er riss die Augen auf.

Unter dem schwarzen Staub, der sein Gesicht bedeckte, wurde er bleich wie eine Jagdspinne.

Mit einem leisen Stöhnen schloss Schrödiger die Augen, in der Hoffnung sofort zu sterben - oder zumindest in Ohnmacht zu fallen.

"Was machst du hier?", fragte die Elfe scharf.

Schrödiger wusste, dass sie nicht zögern würde, seine Antworten mit recht drastischen Mitteln aus ihm herauszuholen - vermutlich in Begleitung einiger Organe.

Er öffnete also wieder die Augen, setzte sich mühsam auf und rieb sich das Gesicht.

"Ich..." Er musste husten.

Dantana wies auf das Rinnsal, und der Gnom beugte sich hinunter, um einen Schluck zu trinken.

Während er trank, ordnete er seine Gedanken.

"Schon viele Gelehrte haben sich gefragt, ob ein umstürzender Baum ein Geräusch macht, selbst wenn niemand da ist, um es zu hören", begann er.

"Kürzlich fand ich in meinen Unterlagen einen Hinweis auf dieses Gebiet, und wie ich feststellte, ist wirklich niemand hier.

Keine lebende Seele.

Jetzt warte ich auf eine Inspiration, wie ich einen Baum umstürzen lassen und auf das Geräusch achten kann, ohne da zu sein."

Ein kaltes Lächeln stahl sich auf Dantanas Gesicht, und der Gnom sah sein letztes Stündlein gekommen.

Doch die Elfe stand lediglich auf.

Sie griff nicht nach ihren Waffen, sondern wandte sich um und folgte dem Bachlauf.

Starr wie das Kaninchen vor der Schlange sah ihr Schrödiger verständnislos nach.

Er hatte erwartet, dass sie ihn jetzt töten würde, vermutlich auf eine langsame, qualvolle Art.

Schließlich hatte er sie in eine Falle gelockt, damals, als er ihr das erste Mal in den Höhlen des Krujatun begegnet war.

Als hätte sie seine Gedanken gehört, drehte sich Dantana in einer fließenden Bewegung um und kehrte zu Schrödiger zurück.

Der Gnom verging fast vor Schreck.

"Was war das Kaninchen?"

"Wie bitte?"

"Das Kaninchen - war es tot oder lebendig?"

Schrödiger brauchte ein paar Augenblicke, um Dantanas Frage zu verstehen, ehe er antwortete:

"Es war tot. Jemand hat die Kiste geöffnet und das Kaninchen erschlagen."

Schrödiger entging beinahe, wie sie ruckartig nickte und ihn dem Wasser folgend allein ließ.

Noch lange Zeit wagte er nicht, sich zu bewegen, und horchte ängstlich auf jeden Laut, in Erwartung ihrer erneuten Rückkehr.In der nächsten Nacht starb er aus lauter Angst.

*

Im Licht der aufgehenden Sonne erblickte Dantana das erste Grün: sie war am Rand der toten Gegend angelangt. Nach und nach wurde aus den ärmlichen Grasflecken ein ganzer Teppich, unterbrochen von Blumen und sich häufenden Sträuchern.

Am Mittag erreichte sie einen Hain, der vor Leben vibrierte, und dessen Anblick allein sie mehr erfrischte als der Schatten seiner blühenden Bäume.

Als das Bächlein, zu dem das Rinnsal aus dem Ödland angewachsen war, eine sonnenüberflutete Lichtung durchquerte, setzte sich Dantana an sein Ufer und schöpfte eine Handvoll Wasser.

Es war immer noch von der Asche verfärbt, und sie wusste, dass sich dieser Zustand nicht ändern würde, bis der "Schwarzbach" in den großen Fluß mündete.

Sie erinnerte sich, in den alten Büchern von dem Problem, das der Gnom geschildert hatte, gelesen zu haben.

Auch ihr Volk, die Blutelfen, hatte sich damit beschäftigt, und erst einmal einen Ort geschaffen, an dem wirklich niemand zuhörte.

Normalerweise war ein Wald voller Leben; Tiere, Bäume, Däumlinge, Dryaden und sonstige Waldwesen, ja selbst Pflanzen verstanden es zu lauschen.

Deshalb hatten die Blutelfen mit magischem Feuer ein Gebiet geschaffen, in dem wirklich niemand mehr zuhören konnte.

Auf Jahre hinaus.

Dantana hatte diese Gegend gerade durchquert.

Das Experiment war übrigens ohne Ergebnis geblieben, denn auch die Blutelfen hatten keine Lösung gefunden,

einen Ton oder sein nicht Eintreten zu bezeugen, ohne das irgendetwas da war.

Vorbei

C. by Charlotte Engmann

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